Er oder Ich? – Was wie die Frage eines eifersüchtigen Ehemanns klingt, ist die Frage, die sich der Schriftsteller bei jedem seiner Werke stellt: Es ist die Frage nach der Erzählperspektive. Natürlich erzählen Sie als Autor Ihre Geschichte selbst. Doch Sie haben mehrere Möglichkeiten, Ihre Erzählung zu delegieren. Im Wesentlichen unterscheidet man drei Erzählperspektiven: die auktoriale, die personale und die Ich-Erzählung.
In der Praxis gibt es Mischformen und Unterkategorien dieser Erzählweisen und Perspektiven. Um die Erzähltechniken professioneller Schriftsteller zu durchschauen, empfiehlt es sich Romane, Krimis und Kurzgeschichten mit analytischem Blick zu lesen. Wer erzählt? Stellen Sie sich diese Frage beim Lesen immer wieder. Es braucht ein wenig Übung, da die meisten Perspektiven nicht in Reinform vorkommen, und da man beim genussvollen Lesen normalerweise überhaupt nicht darauf achtet.
Lesen Sie hier, welche Möglichkeiten die verschiedenen Erzählperspektiven Ihnen als Autor bieten, und welche „Gefahren“ in ihnen stecken:
1. Der auktoriale Erzähler: Allwissen ist Macht
Beim auktorialen Erzählstil statten Sie Ihre erzählende Instanz mit uneingeschränkter Macht aus. Der Erzähler weiß alles – im Gegensatz zu den handelnden Figuren. Er weiß, was bisher geschah. Er weiß, was geschehen wird. Er kennt die Gefühle und Gedanken der handelnden Personen, er leuchtet ihr komplettes Innenleben aus. Er springt in seiner Erzählung nach Gutdünken in die Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Er wechselt die Schauplätze nach Belieben. Je nach Intention des Autors betrachtet der auktoriale Erzähler seine Figuren nachsichtig mit liebevollem Humor oder mit dem Scharfblick eines gnadenlosen Richters. Kurz, der auktoriale Erzähler ist allwissend und allmächtig wie Gott. Er berichtet und richtet von einer höheren Warte aus. Er ist absolute Instanz und unangreifbare Autorität!
Der auktoriale Erzähler kommt in den Romanen des 17. und 18. Jahrhunderts und in den großen Gesellschaftsromanen des 19. Jahrhunderts zu Wort. Wir finden ihn bei Tolstoi, Flaubert, Dickens und in Goethes Wahlverwandtschaften. Mag die Welt im 19. Jahrhundert noch überschaubar gewesen sein, die Welt des 20. und 21. Jahrhundert ist es nicht. Folgerichtig wurde die allwissende Erzählperspektive im Lauf der Zeit mehr und mehr eingeschränkt – oder wenigstens ironisch gebrochen wie in Robert Schneiders modernem Roman „Schlafes Bruder“ – und durch andere Perspektiven ersetzt.
Die auktoriale Erzählperspektive bietet Ihnen als Autor viele Möglichkeiten: Sie können ein groß angelegtes Sittengemälde zeichnen, Sie können eine historische Epoche zum Leben erwecken, moralische Urteile abgeben, Sie können richten und belehren. Die allwissende Perspektive birgt aber auch Gefahren: Allzu schnell kann die Geschichte zum Bericht werden. Aus der Erzählung wird eine Erklärung, aus Unterhaltung wird Belehrung. Der Roman mutiert zur moralischen Anstalt.
2. Der personale Erzähler: er oder sie
Bei der personalen Erzählperspektive machen Sie sich als Autor die Perspektive einer oder mehrerer Ihrer Figuren zu eigen. Sie erzählen in der dritten Person. Der eigentliche Erzähler rückt dabei in den Hintergrund. Er inszeniert die Geschichte in Szenen und Dialogen. Der Vorzug dieser Perspektive ist, dass der Leser von der vermittelnden Erzählinstanz kaum etwas mitbekommen muss. Die Erzählung in der dritten Person ist in der Gegenwartsliteratur sehr beliebt. Es ist eine sehr unmittelbare und persönliche Erzählweise. Wenn Sie sich für diese Perspektive entscheiden, besitzen Sie zwar nicht die Allmacht des auktorialen Erzählers, sind aber auch nicht den extremen Einschränkungen des Ich-Erzählers unterworfen.
3. Der Ich-Erzähler: Die Methode hautnah Kennen Sie „Hautnah – Die Methode Hill?“ Es ist eine englische TV-Krimiserie, die auf den Romanen der schottischen Bestsellerautorin Val McDermid beruht. Der Psychologe Tony Hill deckt zusammen mit den ermittelnden Kommissarinnen komplizierte Serienmorde auf. Als Profiler versetzt sich Hill vollständig in die Persönlichkeit des Mörders hinein. Genauso schlüpfen Sie als Ich-Erzähler in die Haut Ihrer handelnden Hauptfigur. Sie sollten Ihre Figur deshalb mindestens so gut kennen wie sich selbst. Die Ich-Erzählung ermöglicht die größtmögliche Identifikation des Lesers mit der Geschichte, sie besitzt die größte Unmittelbarkeit und eine hohe Glaubwürdigkeit und Authentizität.
Wenn Sie sich für die Ich-Perspektive entscheiden, müssen Sie allerdings auch die Grenzen dieser Erzählperspektive kennen und beachten: Als Ich-Erzähler erzählen Sie Ihre Geschichte ausschließlich aus der Sicht der Hauptfigur. Sie wissen, sehen und erleben nur das, was diese Figur selbst erlebt. Sie können sich dabei nicht gleichzeitig auch in die anderen Figuren hineinversetzen – jedenfalls nicht mehr, als es Ihre Hauptperson kann. Sie wissen auch nichts über Geschehnisse, die parallel an Orten stattgefunden haben, an denen Ihre Hauptperson nicht zugegen war. Natürlich kann Ihr Held durch andere Figuren Ihrer Geschichte davon erfahren. Die Ich-Perspektive ist die persönlichste Erzählperspektive. Sie bewirkt unmittelbare Anteilnahme am Geschehen und die größte Identifikation des Lesers mit Ihrer Figur. Sie wird häufig in Kurzgeschichten eingesetzt und eignet sich gut für die Schilderung innerer „psychischer“ Vorgänge. Da in Kurzgeschichten sowieso nicht sehr viele Personen zu Wort kommen können, lässt sich die Perspektive hier auch besser durchhalten als in einem komplex gebauten Roman.
Mit der Schule des Schreibens können Sie sich das komplexe Thema der Erzähltechniken systematisch erarbeiten und die Handhabung der Techniken an praktischen Beispielen üben. Das ist wichtig, denn nur dann sind Sie frei, die bestmögliche Erzählperspektive für Ihre Absicht zu wählen und diese souverän anzuwenden.
Informationen über die Lehrgänge „Die Große Schule des Schreibens“, „Romanwerkstatt“ und „Belletristik“ finden Sie hier.